Das besondere an der ADHS-Diagnostik
Psychopathologie vs. normale Eigenschaften
Die typischen Symptome der Psychopathologie, wie sie z.B. bei Depressionen oder Angststörungen auftreten, sollten gut abgeklärt werden. Anders als bei typisch psychopathologischen Symptomen handelt es sich bei den ADHS-Symptomen aber viel stärker um “normale” Erlebens- und Verhaltensmerkmale.
Außerhalb der Normalität?
“Ich kann gar nicht gut…, aber so geht es doch anderen auch!” Tatsächlich sind ADHS-Merkmale in der Gesamtbevölkerung “normal-verteilt” vorhanden. Die ADHS-Diagnostik hat daher Erleben und Verhalten zu klären, das jeder mehr oder weniger aus dem eigenen Alltag kennt. Diese “normale” Ausprägung in der Bevölkerung macht die ADHS-Diagnostik anspruchsvoller, und es sollten daher Informationen umfänglicher einbezogen werden, um ein möglichst valides Ergebnis zu garantieren.
Die mehrstufige fachgerechte Evaluation hilft dabei, systematisch und individuell zu ermitteln, ob diese normal-verteilten Merkmale in verschiedenen Situationen und Lebensphasen bei Ihnen ursächlich, belastend und mit deutlichen negativen Auswirkungen vorhanden sind bzw. waren. Eine solche mehrstufige Evaluation bietet die beste Grundlage für ein klares diagnostisches Urteil.
Mulitimodale Diagnostik
Internationale Leitlinien zur Diagnostik von ADHS empfehlen mehrere Schritte für eine fachgerechte Evaluation. Verschiedene Methoden sollten in einem mehrstufigen Diagnostik-Prozess zusammengeführt werden, um individuelle Probleme systematisch zu erfassen. Für eine detaillierte Darstellung des diagnostischen Prozesses lesen Sie bitte unten gerne weiter.
Was ist mit anderen Störungen?
Werden Ihre Probleme und Symptome durch etwas anderes verursacht? Symptome einer ADHS müssen nicht nur von einer “normalen” Ausprägung abgegrenzt werden. Zentral ist auch abzuklären, ob Symptome im Rahmen einer anderen Störung oder eines medizinischen Zustands einzuordnen sind.
Sehr häufig mischen sich die Probleme und Symptome bei einer adulten ADHS zudem mit einer weiteren Störung, die dann zusätzlich erkannt werden sollte.
Im Vergleich zu anderen psychischen Störungen zeigen sich bei der ADHS sogar hohe Komorbiditätsraten. Studien gehen von einer Komorbidität von ca. 80 % aus. Als komorbide Störungen sind unter anderem solche aus dem Bereich der affektiven Störungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und Störungen durch psychotrope Substanzen von Bedeutung.
Wir klären zusätzliche und alternative psychische Störungen eingehend ab und besprechen die wichtigsten medizinischen Differentialdiagnosen sowie die häufigsten medizinischen Risikofaktoren und Komorbiditäten von ADHS. Alle medizinischen Aspekte müssten ggf. mit Ihrem Arzt vertiefend abgeklärt werden.
Klarheit
Gewissheit über die Diagnose
Klarheit in der Diagnostik schafft Klarheit über Ihre Situation, Klarheit darüber, ob und welche Eigenschaften und typischen Situationen aufgrund einer ADHS für Ihren Lebensverlauf prägend waren und sein werden.
Das eigene Profil
Zugleich erstellen wir mit der ausführlichen Diagnostik ein differenziertes Profil darüber, welche Belastungen in Ihrem Alltag durch eine ADHS verursacht sind. Bei jeder belastenden Störung ist es wichtig klar zu haben: Worin besteht die Problematik, was ist die Ursache und bei was genau wünsche ich mir eine dauerhafte Besserung?
Erklärung für vieles
Eine gesicherte Diagnose kann viele, scheinbar unzusammenhängende Symptome erklären. Eine ADHS zeigt sich z.B. bei Konzentrationsschwierigkeiten, Desinteresse, Unruhe, Anspannung, Impulsivität, Desorganisation, Zeitmanagement-Probleme, soziale Probleme oder starken Frustrationen. Diese Belastungen führen langfristig sehr oft zu sekundären Störungen, also Störungen, wie Depressionen, Suchtmittelkonsum und andere. Eine diagnostische Klärung kann helfen, sich selbst besser zu verstehen, Symptome ernst zu nehmen und gezielt Strategien zu entwickeln damit gut umzugehen.
Perspektive
Die Verantwortung
Jemand mit Problemen aufgrund einer ADHS, hat die ADHS-Schwierigkeiten nicht selbst verursacht. Das zu vergegenwärtigen ist beim Blick auf vergangenes Leid und negativ geprägte Selbst-Annahmen oft sehr wichtig. Gleichzeitig gibt es nur einen selbst, um die Verantwortung zu übernehmen – wie werde ich mit meinen Besonderheiten umgehen?
Etwas kommt in Bewegung
Wenn eine Auseinandersetzung mit eigenen ADHS-Eigenschaften beginnt, kann das eine Entwicklung auslösen, in der man mit “Selbsthilfe” viel erreichen kann. Man informiert sich, man reflektiert, man redet mit anderen, und es gibt vieles zu entdecken, was nachweislich hilfreich für einen sein kann.
Therapie
Vielleicht entscheiden Sie sich Ihre Entwicklung auch durch eine professionelle Behandlung zu unterstützen. Vielleicht ist dies sogar ratsam. Was man gerade braucht kann unterschiedliche Akzente haben. Für manche stehen erstmal Veränderungen im Lebensstil im Vordergrund, für andere ist eine wirksame medikamentöse Therapie hilfreich, oder man nimmt psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch, um verschiedene “innere” und “äußere” Prozesse einzugehen. Zentrale Themen sind dabei oft:
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Ein passendes Selbstmanagement mit hilfreichen Routinen
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Positivere, funktionalere oder realistischere Annahmen und Überzeugungen
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Arbeit an belastenden Erfahrungen und belastenden Überzeugungen
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Reflektion der Lebensumstände, der Lebensziele und der beruflichen Situation
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Kompetenzen in emotionaler Regulation
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Spezifische soziale Kompetenzen
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Achtsamkeit
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Schlaf, Ernährung und körperliche Fitness
Elemente der ADHS-Diagnostik
Bei der Diagnostik von ADHS sollten in einem mehrstufigen Prozess verschiedene Perspektiven und Methoden zusammengeführt werden. Die Empfehlungen internationaler Leitlinien[1] zur Diagnostik von ADHS sind gut begründet und nachvollziehbar:
Persönlicher klinischer Eindruck
In einem offenen Gespräch können Sie frei erzählen, wie es Ihnen geht und wie Sie sich selbst erleben und sehen. Dieses Gespräch wird von mir meistens nur unterstützend leicht strukturiert. Ich schätze diesen Teil der Diagnostik sehr. Es ist das besondere an meinem Beruf, dass mir Menschen von ihrem Leben, und ihren Sorgen erzählen können.
Biografische Anamnese
Diagnostische Klarheit darüber, ob Sie eine ADHS haben besteht nur, wenn eine Problematik nicht nur aktuell, sondern (rückblickend) auch in der Kindheit oder Jugend feststellbar ist. Die wissenschaftliche Debatte zur late-onset-Diagnose ist zwar offen. Große Einigkeit besteht aber darin, dass eine Problematik spätestens in der Jugend festzustellen sein sollte - wenn auch von Experten teilweise vertreten wird, dass dass Problemen sogar erst im frühen Erwachsenenalter störungsrelevant manifest werden können.
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Ist eine ADHS für Sie zutreffend, so können Symptomatik und Leidensdruck im Lebensverlauf mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt gewesen sein
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es kann auch schwer fallen bei sich selbst eine ADHS-Symptomatik in der eigenen Kindheit einzuschätzen
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bei einer adulten ADHS muss eine ADHS nicht in der Kindheit oder Jugend offiziell diagnostiziert worden sein
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Gemeinsam sollten wir ein möglichst klares rückblickendes diagnostisches Bild der Kindheit und Jugend erarbeiten. Andernfalls ist es unwahrscheinlich, dass Ihre aktuelle Problematik auf eine ADHS zurückzuführen ist. Dann ist es umso wichtiger eine gute Differentialdiagnostische Klärung zu erlangen, damit Sie wissen, was die wirkliche Ursache für die aktuellen Belastungen ist.
Strukturiertes klinisches Interview
Expertenmeinungen geben eine deutliche Empfehlung: Das wichtigste diagnostische Element ist das standardisierte und strukturierte klinische Interview. Im standardisierten Interview erheben wir systematisch Ihre Symptom-Ausprägung und Ihren Leidensdruck in Bezug auf verschiedene Lebensbereiche- und situationen für die Gegenwart und für die Kindheit.
Normierte ADHS-Testdiagnostik
Eine ausführliche Testbatterie wird von Ihnen an einem PC ausgefüllt. Diese Diagnostik ist sehr hilfreich, weil die Fragen standardisiert sind und Ergebnisse auf wichtigen Subskalen liefert. Ihre Werte können dann im Vergleich zur Allgemeinpopulation und im Vergleich zur “ADHS-Population” betrachtet, und im Gesamtkontext eingeordnet werden.
Allgemeine psychische Testdiagnostik
Auch zu anderen psychischen Störungen erfolgt ein standardisiertes Screening. Das Screening umfasst häufige psychische Störungen, differentialdiagnostisch relevante Störungen und andere neuronale Entwicklungsstörungen. Ergeben sich hier oder in der freien Anamnese Hinweise auf eine andere oder auf eine zusätzliche Problematik, wird individuell eine spezifische vertiefende Testdiagnostik ergänzt, um mehr Klarheit zu erreichen.
IQ-Test
Ein vergleichsweise kurzer, aber valider Intelligenztest wird am PC durchgeführt. Das Ergebnis dieser Testung ist besonders dann hilfreich, um ggf. unauffällige oder sogar gute Leistungen in der Schulzeit (Noten) oder im Berufsleben einzuordnen, oder aber auch um andere Gründe für ggf. vorhandene Schwierigkeiten der Schulzeit oder des Berufslebens auszuschließen.
Standardisierte Fremdanamnese
Der Blick auf sich selbst ist immer subjektiv und eingeschränkt. Das gilt besonders für die Kindheit und Jugend. Auch hier sind Expertenempfehlungen klar: nach Möglichkeit sollte ein Elternteil, ein älteres Geschwister oder ein Partner oder guter Freund eingebunden werden. Gemeinsam führen wir ein strukturiertes klinisches Interview durch. Zudem fließt in die Fremdanamnese auch standardisierte und normierte Fragebogen-Testdiagnostik ein. Sollte es für Sie schwierig sein eine vertraute Person in die Diagnostik einzubinden, kann dies jedoch im Vorfeld besprochen werden.
Zeugnisse
Sind entsprechende Vermerke in den Schulzeugnissen (1. bis 6. Klasse) gegeben, sind dies hilfreiche Informationen.
ADHS-Symptomatik bei Erwachsenen
Teilweise drücken sich Symptome bei Erwachsenen anders aus, als bei Kindern. Verlaufsstudien zur ADHS zeigen zudem, dass sich Symptome über die Lebensspanne verändern. Die Empfehlung ist daher, neben den allgemeinen und altersunabhängigen Symptomkriterien der Klassifikationssysteme, ergänzend zu berücksichtigen, wie sich entsprechend wissenschaftlicher Studien, ADHS-Symptomatik spezifisch bei Erwachsenen äußert.
Bei Erwachsenen nimmt z.B. die motorische Unruhe im Lebensverlauf oft ab oder ist weniger sichtbar. Dafür berichten Betroffene aber z.B. von stärker innerer Unruhe und von Gedankenrasen. Studien zeigen auch, dass sich Impulsivität altersspezifisch verändert. Die Unaufmerksamkeit zeigt dagegen im gesamten Altersverlauf eine hohe Konsistenz. Aber auch für Aufmerksamkeitsprobleme gilt: Symptome zeigen sich immer vor dem Hintergrund der aktuellen Anforderungen und aktuellen Lebensumständen, und die ändern sich im Lebensverlauf.
Differentialdiagnostik und Komorbidität
Eine gute Diagnostik umfasst eine gute differentialdiagnostische und eine gute komorbide Bewertung. Liegt vielleicht eine ganz andere Problematik vor, oder ist eine andere Problematik zusätzlich vorhanden?
Gesamtbewertung
Die Gesamtbewertung erfolgt vor dem Hintergrund der individuellen Biografie und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lebens-Situation. Sowohl ADHS-Symptomatik, als auch Leidensdruck sind im Lebensverlauf teilweise sehr variabel ausgeprägt und können sich je nach Alter und Lebensumständen auch unterschiedlich ausdrücken. Risikofaktoren können bestätigend identifiziert werden und andere Ursachen können ausgeschlossen werden.
Klassifikationssysteme
Die verschiedenen Informationen werden im Rahmen der Vorgaben, Einschränkungen und Hinweise des in Deutschland gültigen Klassifikationssystem (ICD) bewertet.
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ICD-10: aktuell in Deutschland gültiges Klassifikationssystem, differenziert bei der Darstellung der Symptomatik jedoch nicht zwischen Kindern und Erwachsenen und hält sich in der Darstellung der Symptomatik insgesamt sehr knapp
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ICD-11: neuesten Revision, in Deutschland noch nicht eingeführt, aktualisierte und deutlich verbesserte diagnostische Darstellung
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DSM-5: Klassifikationssystem der USA, im Vergleich zum ICD-11 werden sehr konkrete alltagsnahe Symptome beschreiben
[1]
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S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
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The Adult ADHD Quality Assurance Standard (AQAS)
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Canadian ADHD Practice Guidelines
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Australian EvidenceBased Clinical Practice Guideline For Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD)
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Attention deficit hyperactivity disorder: diagnosis and management NICE guideline [NG87]